Was ist Erfahrung?

Meine Theorie der Erfahrung entstand aus der Erzählung vom Sterngucker, einer persönlichen Erinnerung aus meinen Kindheitstagen. Die Erzählung berichtet von einer Veränderung in der Struktur meiner Erfahrung, d. h. in der Art und Weise, wie ich Realität erlebte. Ich war damals zwölf Jahre alt und hockte in einer klaren Winternacht am Küchenfenster. Ich voll darauf konzentriert, die Sterne durch das Fernglas meines Vaters zu betrachten. Als ich gerade meinen Blick von den Plejaden zum Schwert des Orion schweifen ließ, kehrte sich meine Aufmerksamkeit plötzlich um und schwenkte von den Sternen zu mir selbst. Statt der Sterne stand auf einmal der Sterngucker im Focus. Ich bemerkte mich selbst, wie ich dasaß und zu den Sternen hinaufschaute. Ich hatte mich selbst entdeckt, mich selbst als Teilnehmer an der Welt und ihrer Wahrnehmung. Diese Entdeckung war für mich zunächst ein Schock. Ich berichtete sofort meinen Eltern davon, die neben im Wohnzimmer saßen. Beide beruhigten mich und sagten, es sei etwas, das sie etwa in meinem Alter genauso erlebt hatten. Die Entdeckung bekam auch einen Namen, nämlich das „Selbstbewußtsein“. Das machte mich stolz, denn ich hatte scheints irgendwie einen bedeutenden Schritt gemacht.

Freilich blieb mir die Bedeutung dieses Schrittes zunächst unklar. Daß ich eine neue Erfahrungsdimension entdeckt hatte, zeigte sich erst später, in meiner Studienzeit, als ich meine Erinnerungen auf der Suche nach philosophisch motivierten Erfahrungen systematisch durchforstete. Diese sogenannte anamnetische Methode hat Eric Voegelin, einer meiner philosophischen Lehrer entwickelt. Dabei sucht man nach Schlüsselerlebnissen, die unsere Neugierde in Kindheit und Jugend anregten – eine Neugierde, die metaphysisch, künstlerisch, erotisch oder was auch immer sein kann. Aus dieser Anamnese entstand das Kernthema der „History of Experience“: das Studium der Erfahrung und ihrer historischen Dynamik.

Vom Inhalt
 zur Struktur …

Obwohl “Erfahrung” im wissenschaftlichen Diskurs und in der Alltagssprache allgegenwärtig ist, blieb sie einer der obskursten Begriffe in unserem philosophischen Repertoire. Der Hauptgrund dafür ist, dass sich die Debatte über “Erfahrung” auf den Inhalt konzentriert. Die Frage “Was haben wir erfahren?” steht im Zentrum. Die Frage “Wie machen wir Erfahrung?”, also die Frage nach der Struktur von Erfahrung, bleibt hingegen unbeachtet. Sobald dieses Problem einmal klar war, ergab sich logischerweise das Projekt, nun eine Theorie der Erfahrung zu entwickeln.

Ausgehend von einer empirischen Analyse der Erfahrung läßt sich “Erfahrung” als “bewußte Partizipation” bestimmen. Erfahrung ist mithin eine vierteilige Struktur: zwei Pole, die durch die Partizipation verbunden sind und durch die Helligkeit des Bewusstseins illuminiert werden. Partizipation an der Realität ohne Bewußtsein ist Informationsverarbeitung. Partizipation mit Bewußtsein ist Erfahrung..

… zu den 9 Wenden in der Erfahrung

Als ich mich näher mit der Geschichte des Sternguckers befaßte, entdeckte ich, daß die Struktur der Erfahrung variabel ist und sich im Laufe unseres Lebens und auch in der Geschichte der Menschheit ändert. Diese Entdeckung veranlaßte mich, die Geschichte der Erfahrung näher zu untersuchen. In der Menschheitsgeschichte fand ich insgesamt neun solcher Wenden. Die erste dieser neun Transformationen liegt im Paläolithikum und die jüngste in unserer Gegenwart. Es ist immer die Art und Weise, wie die Menschen bewußt an den Dingen partizipieren, also die Art der Partizipation, die sich in diesen Transformationen ändert. Die Art und Weise der Partizipation ist das Vehikel der historischen Dynamik.

… eine Abfolge von vier Phasen

Die neun Varianten entwickeln sich allmählich, sowohl im Laufe unseres Lebens als auch im Laufe der Menschheitsgeschichte. Sie durchlaufen immer die gleiche Abfolge, die aus vier Phasen besteht. Diese vier Phasen sind:

  1. Die Inkubationsphase, in der einzelne Pioniere eine neue Erfahrungsdimension erleben
  2. Die Identifikationsphase, in der die neue Dimension explizit benannt, beschrieben und symbolisch dargestellt wird
  3. Die Methodenphase, in der eine methodische Praxis entwickelt wird, um die neu entdeckte Dimension anderen Menschen zugänglich zu machen. Wenn dies gelingt, wird die Entdeckung zu einer breiten Bewegung, die
    zuletzt zur …
  4. Institutionalisierungsphase überleitet: Jetzt werden die neue Dimension und ihre Praxis zu festen Bestandteilen einer Gesellschaft.

Solche Erfahrungswenden treten sowohl auf der biografischen als auch auf der historischen Ebene auf. Auf der historischen Ebene fand ich als erste Parallele zur Geschichte des Sternguckers die Dichtungen des iranischen Propheten Zarathustra, von denen ich weiter unten berichten werde.

… und die Ordnung der Geschichte und der kulturellen Evolution

Im Gegensatz zu Karl Jaspers’ Theorie der Achsenzeit zeigt die Geschichte der Erfahrung, daß es nicht eine einzige Achse gibt, sondern neun axiale Wenden in der Erfahrungsstruktur. Das Grundmuster der kulturellen 2 Evolution und die Ordnung der Geschichte ergeben sich beide aus dem Prozess dieser neun Transformationen. Eine interkulturelle, historische Analyse zeigt, wie die variable Kombination von Erfahrungsdimensionen den spezifischen Charakter einer jeden Kultur bestimmt.

Mit jeder Wende wächst die Kette der Erfahrungen und es entstehen neue kulturelle Konstellationen. Die “History of Experience” beschreibt diese kulturelle Genealogie und die Abfolge der neun historischen Achsen. Daraus ergibt sich ein neues Bild unserer kulturellen Identität und der Menschheitsgeschichte.

Die Methode der Erfahrungsforschung

Die Erforschung der Geschichte der Erfahrung erforderte auch eine eigene Methode. Auf der persönlichen, ontogenetischen Ebene kennen wir den Prozeß aus unserer eigenen Erfahrung, d.h. durch Introspektion und Erinnerung. Hierfür verwende ich die anamnetische Methode.

Auf der kollektiven, phylogenetischen Ebene liegen die Dinge anders. Hier bleibt die persönliche Perspektive für uns unzugänglich. Erst wenn Menschen eine neue Erfahrung artikulieren, d. h. in der zweiten Phase der Vier-Phasen-Sequenz, wird die implizite persönliche Erfahrung auf der phylogenetischen Ebene explizit zugänglich. Dies gilt auch für die Phasen der methodischen Praxis und der Institutionalisierung. Erst wenn sie explizit wird, betritt eine jede neue Dimension die Bühne der Geschichte.

In der Erfahrungsforschung besteht unser Quellenmaterial aus kommunizierten Erfahrungen, also aus Symbolen und Artefakten, aus Erzählungen, Konzepten und Texten. Darüber hinaus drücken sich Erfahrungen auch in der Praxis aus, und die Praxis nimmt in Methoden und Institutionen Gestalt an. Die Methode der Erfahrungsforschung stützt sich mithin insgesamt auf die Stufen zwei bis vier, d.h. auf das Studium von Symbolen und die Erforschung der menschlichen Praxis.

Aus eigener Erfahrung wissen wir jedoch, dass die Artikulation einer Erfahrung bereits ihr subjektives, persönliches Bewusstsein voraussetzt. Ein Symbol verstehen heißt mithin zu erschließen, welche Erfahrung ihm zugrunde liegt. Ein Mandala wird erst zum spirituellen Symbol, wenn man die spirituelle Erfahrung einbezieht. Ohne sie bliebt es ein buntes Bild. Um fremde Erfahrungen zu verstehen, bedarf es daher der Einbeziehung unserer eigenen persönlichen Erfahrung. Ohne Subjektivität gibt es keine objektive Empirie. Man muß folglich alle neun Dimensionen selbst erlebt haben, wenn man alle neun Dimensionen der Erfahrung nachvollziehen will. Die anamnetische Methode ist ein unverzichtbarer, integraler Bestandteil der Erfahrungsforschung.


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