Die zweite Transformation der Erfahrung ist der Übergang vom impliziten Gedächtnis zur expliziten Erinnerung oder zur reproduktiven Imagination.
Vom impliziten Gedächtnis
Während das implizite Gedächtnis eine natürliche Fähigkeit ist, die im Reich des Lebendigen weit verbreitet ist, ist das explizite Gedächtnis oder die Imagination eine kulturelle Errungenschaft und eine neue Erfahrung. Das implizite Gedächtnis ermöglicht es beispielsweise einem Tier, instinktiv den Weg zur Wasserstelle zu finden. Das explizite Gedächtnis hingegen macht es möglich, sich den Weg zur Wasserstelle vorzustellen, bevor man sich dorthin begibt. Auch hier ist die Intervention des Bewußtseins entscheidend. Auch hier kommt es zu einer Entkopplung: Die Erinnerung an einen Weg erscheint im Lichte des Bewußtseins, sodaß wir entscheiden, ob wir diesen Weg gehen wollen oder lieber einen anderen.
zur expliziten Erinnerung

Durch die Wende vom impliziten Gedächtnis zur expliziten Erinnerung hat der Mensch allmählich eine neue Fähigkeit erworben. Die ersten Spuren eines effektiven Einsatzes der Imagination können wir im Jungpaläolithikum entdecken. Zu dieser Zeit begannen komplexe Werkzeuge eine vorausschauende Planung zu erfordern. Dieses Vorstellungsvermögen entwickelte sich spätestens mit dem Aufkommen der Feuersteintechnik. Bevor man Werkzeuge aus Feuerstein herstellen kann, muß man zunächst Feuerstein finden, ihn ausgraben und für die Verarbeitung vorbereiten. Man muß sich vorstellen, aus welchen Rohlingen man welche Art von Werkzeugen herstellen kann. Zwischen dem Wunsch, Werkzeuge zu benutzen, zum Beispiel bei der Jagd, und der Ausführung dieses Impulses liegt ein Zwischenschritt: die bewußte Herstellung von Werkzeugen.
und zur symbolischen Praxis
Irgendwann wurde diese neue Begabung nicht mehr nur für die Herstellung von Werkzeugen genutzt. Nun begannen die Menschen, symbolische Artefakte und Kunstwerke herzustellen. Während Werkzeuge auf Dinge wirken, wirken Symbole auf die Imagination. Diese neue symbolische Praxis begann mit dem Homo erectus und dem Homo Heidelbergensis. Sie erreichte ihren Höhepunkt mit der Kunst des Homo sapiens. Wir können ihre Entwicklung anhand von symbolischen Artefakten und Kunstwerken nachvollziehen. Ähnlich wie bei der Herstellung von Werkzeugen bildeten sich spezielle Methoden und Institutionen heraus, um diesen Prozeß zu organisieren. Die paläolithischen Höhlenmalereien sind ein herausragendes Beispiel für diesen Prozeß.
Weiter mit -> “Der Sinn für Ordnung”
<- Zurück zu “Wahrnehmung“